Veränderungsmanagement

Das Managen von Ambidextrie im Zeitalter digitaler Transformationen

Viele Organisationen sehen sich heute mit umfassenden und notwendigen Anpassungs-bedarfen konfrontiert. In diesem Zusammenhang ist häufig von Digitalisierung, Paradigmenwechseln und Disruption die Rede. Auch der Begriff Ambidextrie – übersetzt „Beidhändigkeit“ - ist immer öfter zu hören. Was versteht man unter Ambidextrie?

Ambidextrie beschäftigt sich mit der Frage, wie Organisationen parallel, sozusagen „beidhändig“, zwei voneinander völlig verschiedene Geschäfts- und Unternehmensmodelle steuern können. Beispielsweise wenn einerseits das etablierte, auf Effizienz getrimmte Geschäft als Cash Cow zum Erhalt des Unternehmens und zur Finanzierung der neuen Welt benötigt wird. Und zugleich ein neues, innovatives Geschäfts- und Unternehmensmodell entwickelt wird, das mittel- bis langfristig das bisherige Geschäft ablöst – es also „kannibalisiert“.


Weshalb ist Ambidextrie jetzt auf einmal ein Thema?

Im Industriezeitalter (von ca. 1850 bis ca. 1990) mit relativ stabilen Märkten entwickelten sich Innovationen zumeist organisch innerhalb der Organisation: Das Geschäftsmodell wurde angepasst, die Prozesse wurden verschlankt, neue Produkte wurden entwickelt usw. Die Veränderungsgeschwindigkeit war vergleichsweise langsam.

 

Mit dem aufkommenden Internet, dem Mobilfunk und der darauf basierenden Globalisierung wurden die Märkte immer dynamischer und damit die Herausforderungen für die Organi-sationen immer komplexer. Die daraus resultierenden Anforderungen hinsichtlich der Radikalität und der Geschwindigkeit von Innovationen konnten mit den bisherigen Mustern im Denken, Verhalten und Entscheiden nicht mehr bewältigt werden. Viele Unternehmen kauften in der Folge kleine, junge Unternehmen („Innovationsboutiquen“) auf , richteten externe Innovation Labs ein oder etablierten Think Tanks, die unabhängig vom laufenden Geschäft als gesonderte Einheiten agierten, um neue innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Das Innovationsgeschäft wurde damit quasi „outgesourced“, um losgelöst von bestehenden Richtlinien, etablierten Standardprozessen und Denkmustern der Kernorganisation agieren zu können - häufig im Sinne eines Start-Ups Ups mit Netzwerkcharakter.

 

Gleichsam schien sich das Mentale Modell zu festigen, man könne erfolgreiche innovative Geschäftsmodelle quasi im Sinne von copy&paste in die etablierte Organisation übertragen. Dies stellt sich jedoch zunehmend als Trugschluss heraus. Denn selbst wenn die etablierte Organisation verschlankt, Prozesse angepasst, und zunehmend agile Tools implementiert werden, stehen historisch gewachsene Denk- und Verhaltensmuster der Innovation hartnäckig entgegen. Alle Versuche, einer großen, gewachsenen Organisation auf die Schnelle eine neue Kultur, einen neuen Spirit oder Mind Set zu verordnen, scheitern.

 

Deshalb haben einige Organisationen mit einem „Insourcing“ angefangen: Die vormals out-gesourcten Innovationseinheiten werden nun innerhalb der bestehenden Organisation platziert, wobei sie ihre eigene Identität (z. B. informellerer Umgang miteinander, schnelle Entscheidungswege, kreative Arbeitsumgebung, agiles Vorgehen usw.) behalten bzw. neu entwickeln. Auf diesem Wege entsteht eine neue, völlig andere Organisation innerhalb der alten. Ziel ist es nun, dass sich das innovative Geschäft sukzessive ausdehnt und parallel zum bisherigen Geschäft entwickelt. Und diese neue Organisation soll wachsen – zugunsten der bisherigen. Diese beiden so unterschiedlichen Organisationen mit ihren unterschiedlichen Geschäftsmodellen müssen nun gleichzeitig – beidhändig – gesteuert werden.


Was ist dabei das Problem?


Durch die Notwendigkeit der gleichzeitigen Steuerung von zwei Organisationen entsteht ein Dilemma*: Das Top-Management muss zwischen der Investition in den effizienzorientierten Teil der Organisation und der Investition in den innovationsorientierten Teil entscheiden.


Wieso ist das überhaupt ein Dilemma? Wäre es nicht das Einfachste, beides parallel zu machen? Prinzipiell stimmt das so. In den letzten Jahrzehnten haben sich aber die meisten Organisationen in unserem Wirtschaftsraum am Effizienzideal ausgerichtet. In der Praxis führte das dazu, dass alle Puffer und Reserven (sowohl personell als auch monetär) wegrationalisiert wurden. Um die für das Innovationsgeschäft benötigten massiven Anpassungsleistungen parallel zu dem effizienzgetriebenen Geschäft leisten zu können, fehlen dazu häufig schlichtweg die vormals existierenden Puffer und Reserven.

 

Dadurch entsteht ein Dilemma im Umgang mit den noch vorhandenen und schon heute oft knappen Ressourcen: Einerseits muss das effizienzgetriebene Tagesgeschäft mit voller Kraft aufrechterhalten werden. Unter anderem auch deshalb, um sich die notwendigen Innovationen in neue Geschäftsmodelle leisten zu können. Kümmert sich jedoch die gesamte Organisation um das Effizienzgeschäft, fehlen Kapazitäten und Kreativität, um das Innovationsgeschäft voranzutreiben. Wird andererseits das Innovativgeschäft einseitig in den Fokus gerückt, weil nur so das mittel- und langfristige Überleben der Organisation sicherzustellen ist, fehlen Kapazitäten zum Aufrechterhalten und Optimieren des Effizienzgeschäftes.


Die Organisationen haben sich das Dilemma der Ressourcenknappheit also selbst „eingebrockt“. Zumindest theoretisch könnten sie es wieder auflösen, indem sie Investitionsentscheidungen treffen und wieder mehr Kapazität aufbauen, um sowohl das Innovations- als auch das Effizienzgeschäft parallel stemmen zu können. Das Dilemma löst sich auch in dem Moment auf, in dem das Innovationsgeschäft selbst zum neuen Effizienzgeschäft geworden ist und das alte Effizienzgeschäft vollständig verdrängt hat.


Zunächst gilt es aber für viele Organisationen, sich mit der Bewältigung des Dilemmas der Ressourcenknappheit zu beschäftigen.


*Exkurs: Was ist ein Dilemma?


Ein Dilemma bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, welche beide zu einem unerwünschten Resultat führen. Im betrieblichen Alltag sind das in der Regel solche Zielkonflikte, die nicht verlustfrei entschieden werden können. Etwa: Wird Ziel A verfolgt, kann nicht gleichzeitig Ziel B erreicht werden, und umgekehrt.


Zur Charakteristik eines Dilemmas gehört, dass es gar nicht beziehungsweise nicht kurzfristig gelöst werden kann. Um konstruktiv mit einem Dilemma umzugehen, muss daher der Faktor Zeit hinzugezogen werden. Zum Beispiel: Über einen bestimmten Zeitraum wird Ziel A verfolgt, unter bewusster Vernachlässigung von Ziel B. Im nächsten Zeitabschnitt wird dann Ziel B fokussiert, bei gleichzeitiger bewusster Vernachlässigung von Ziel A. Das bedeutet, dass die Verantwortlichen immer wieder aufs Neue – also iterativ – entscheiden müssen, welches Ziel als nächstes für wie lange in den Vordergrund rückt.

 

Ambidextrie aus der Sicht des Change Managements


Die Steuerung des erfolgreichen Zusammenspiels zweier sehr unterschiedlichen Organisationeinheiten ist höchst anspruchsvoll und muss wirksam gestaltet und gemanagt werden. In den klassischen Managementkonzepten ist die Bewältigung von Dilemmata nicht vorgesehen: In der Nachfolge von Max Webers Organisationstheorie galt es jahrzehntelang als unbedingtes Ziel von Unternehmen, dilemmafrei zu agieren, das heißt, Zielkonflikte zu vermeiden oder einseitig aufzulösen. Das ist jedoch in unserer immer komplexer werdenden Welt kein angemessenes Strategiekonzept mehr.


Für eine erfolgreiche beidhändige Steuerung ist es unabdingbar, dass die Organisation lernt, aktiv und konstruktiv mit dem Dilemma Ressourcenknappheit umzugehen.
Dazu müssen sich allerdings die Muster im Denken, Verhalten und Entscheiden verändern und die ganze Organisation zu einer neuen organisationalen Identität finden. Eine Identität, die in ihrem Kern darauf ausgelegt ist, beidhändig zu steuern und die dazu notwendigen, immer wieder aufs Neue erforderlichen Dilemmabewältigungen als selbstverständlichen Standard praktiziert.


Nur über eine Veränderung beziehungsweise Weiterentwicklung dieser Identität lassen sich die dazu erforderlichen Lernprozesse für eine neue Haltung und ein verändertes Handeln der beteiligten Menschen – in erster Linie der Führungskräfte – zielführend gestalten und nachhaltig in der Organisation verankern. Diese gelingen durch Veränderungsprozesse, die co-kreativ gestaltet werden. Unser neues Buch „Change durch Co-Creation – Wie Sie den Erfolg von Transformationsprojekten verdoppeln“ bietet einen Leitfaden zur Gestaltung solcher co-kreativer Veränderungsprozesse.

 

Was können Entscheider tun?


Ein Veränderungsvorhaben zur Ausgestaltung eines beidhändigen Steuerungssystems und die Organisation der zur Implementierung notwendigen Veränderungs- und Lernprozesse ist Chefsache. Einige Impulse dazu, wie Sie Ihre Organisation fit machen im Umgang mit Dilemmata:

  • Gestaltung der Entscheidungsprozesse
    Das Top-Management muss dafür sorgen, dass in der Organisation ein permanentes Neu-Entscheiden über den jeweils aktuellen Fokus zwischen Effizienzgeschäft einerseits und Innovationgeschäft andererseits stattfindet – und es muss ein Weg gefunden werden, dies zu institutionalisieren.
  • Institutionalisierung eines „Verhandlungssystems“
    Damit ist gemeint, dass die Entscheidung „Fokus auf Effizienzgeschäft ODER Fokus auf Innovationgeschäft“ regelmäßig auf der Agenda der Managementteams steht – auf allen Hierarchieebenen. Und immer wieder neu über die aktuellen Prioritäten entschieden wird.
  • Co-kreativ gestalten – die Intelligenz der Organisation nutzen
    Die Führungskräfte verschiedener Ebenen und andere Keyplayer von Anfang an co-kreativ in die Planung der Vorgehensstrategie einbinden und das iterative Entwickeln der notwendigen Musterwechsel im Denken, Verhalten und Entscheiden in die Gestaltung der Veränderungsarchitektur integrieren.
  • Führungskräfteentwicklung
    Das hier benötigte neue Denken und Verhalten der Führungskräfte erfordert intensive Lernprozesse auf der personalen und organisationalen Ebene. Um diese Lernprozesse zu unterstützen, sollte in die Veränderungsarchitektur ein fokussiertes Entwicklungs-programm für Führungskräfte integriert werden. Darüber hinaus ist es notwendig, die Entwicklung der neuen Muster, Narrative und mentalen Modelle in Verbindung mit den Veränderungen der betriebswirtschaftlichen Strukturmerkmale gezielt voranzutreiben.
  • Den Veränderungsprozessen Zeit einräumen
    Transformationen, die neues Denken und Verhalten der Mitarbeiter erfordern und Musterwechsel in der Organisation kosten: Sowohl Zeit – für Iterationen und Wiederholungen – als auch Produktivität. Beim Formel-1-Rennen lassen sich die Reifen auch nicht bei voller Fahrt wechseln – dazu braucht es eben Boxenstopps.

 

Sie brauchen Beratung für die Gestaltung co-kreativer Veränderungsprozesse und den Umgang mit Ambidextrie? Oder suchen Sie nach einer systemischen Weiterbildung, um sich fit zu machen für Co-Creation im Führungshandeln? Dann sprechen Sie uns an. Bei uns finden Sie Lösungen für die Bewältigung Ihrer Herausforderungen. Fundiert, erprobt und zielführend.


Für unsere Beratungsarbeit sind wir mehrfach ausgezeichnet worden: Unter anderem hat die WSFB-Beratergruppe Wiesbaden zum sechsten Mal in Folge auch 2019 von Mitbewerbern und Kunden den Titel „Beste Berater“ in den Kategorien Strategie, Banken, Change Management und Transformation erhalten! Organisiert von brandeins wissen und statista.

 

Ihr Ansprechpartner:
Hans-Werner Bormann
Geschäftsführender Gesellschafter
Vorstandsvorsitzender des Fachverbandes Change Management im BDU
Lehrbeauftragter an der Hochschule Karlsruhe „Die innovierende Organisation – Lern- und Veränderungsprozesse zielführend gestalten“
hwbormann@wsfb.de

 



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